Durch die hohen Art-déco Fenster des Café Flury betrachtet, zeigt sich Kalkutta von seiner besten Seite. Sonnenstrahlen fallen auf Schokoladenkuchen und Gebäck, Dampf steigt von der Espressomaschine empor und der aufmerksame Portier öffnet höflich die Flügeltüren für diejenigen, die hier willkommen sind. Künstler, Touristen, Geschäftsleute – die indische Mittelschicht.
Nach einer sehr langen und verspäteten Zugfahrt von Varanasi bleibt mir nur etwas mehr als ein Tag in dieser Stadt, die sich von ihrem Niedergang als Handelsmetropole wohl nie ganz erholt hat und in der Welt nur als Mutter Theresas Armenhaus bekannt ist. Dabei schlägt hier das kulturelle und künstlerische Herz Indiens, weit mehr als im unterkühlten Delhi das ihr den Rang als Hauptstadt einst abgenommen hat.
Vor den verfallenen kolonialen Fassaden, den Gärten des prächtigen Victoria Memorials, auf den Gehwegen, in den Gassen führt derweil das wahre Leben seine kleinen und großen Dramen auf. Handgezogene Rikschas transportieren Menschen und Waren durch das Gewirr rund um den Kalighat Tempel, der der Stadt seinen Namen gab. Menschen tragen Wassereimer von den Handbrunnen auf der Straße nach Hause, Bettler warten auf Almosen und Armenspeisungen, Straßenhändler preisen ihre Waren an. Rote Hibiskusblüten für Kali, die Göttin des Todes und der Zerstörung. Leuchtend rotes Pulver für rote Rituale während im Tempel das Blut von einem dutzend Ziegen noch nicht getrocknet ist. Ein nötiges Tieropfer, das Kali heute milde stimmen wird und deren Fleisch von Brahmanen für die Spender und die Armen vor den Toren des Tempels zubereitet wird.
Lange Schlangen vorgetragener Gebete winden sich durch das Heiligtum, während die Göttin selbst unsichtbar im Gewühl von Menschen verborgen bleibt.
Und doch erblickt man das schwarze Gesicht an jeder Straßenecke, in den unzähligen Schreinen, den Bildern an den Wänden der Stadt und als indisches Heiligenbild für daheim an den Straßenständen.
Eine allgegenwärtige Macht im Kampf gegen die Dämonen in dieser Stadt, deren Gunst man sich regelmäßig vergewissern möchte.
In den Straßen wird irgendwo ein Taxi gesegnet, Hibiskusblüten werden auf Motor, Batterie und Scheiben verteilt, Räucherstäbchen entzündet und das Wasser einer zerschlagenen Kokosnuss sorgsam ringsum auf Chrom und Blech versprengt. Mit Kalis Hilfe wird der Motor nicht versagen, der Kühler dichthalten und das Gefährt keinen Unfall erleiden. Vielleicht werden auch die Vögel der Stadt sein Blechkleid nicht besudeln. Das Wohl einer kleinen Familie hängt schließlich von diesem Taxi ab, so stehen denn auch alle von der Oma bis zum Kleinsten zum Gebet versammelt, die Hände zum Gebet vor der offen Motorhaube zusammengelegt um den Worten des Priesters zu folgen, die den Segen und die Gunst Kalis versprechen.
Hoffnung auf eine sichere Zukunft glänzt in ihren Augen. Auf der Straße, schwarz wie Kalis Antlitz, glänzt das herab getropfte Motoröl.