Ein Platz auf der Mauer vor dem zweihundert fünfzig Meter breiten Wassergraben bietet einen ruhigen und schönen Blick auf die noch dunkle Kulisse des größten sakralen Gebäudes der Welt, Angkor Wat. Die Zeit bis zum Sonnenaufgang bietet einige schöne Fotomomente und Zeit, sich von der Wucht dieses Gebäudes aufs Neue beeindrucken zu lassen. Wobei Gebäude einfach nicht der passende Ausdruck ist. Schließlich handelt es sich bei jedem Tempel in Angkor um das perfekte Abbild der hindusitischen Weltordnung, mit dem heiligen Berg Meru, der sich aus dem kosmischen Ozean erhebt. Die Mauern symbolisieren die Bergrücken, die den Berg Meru umgeben und Schlangen, Nagas, entlang der breiten Chaussee, symbolisieren den Regenbogen über den die Menschen in die Welt der Götter reisen. Alle Abstände zwischen den Tempelbestandteilen sind genaustens anhand der hindusistischen Kosmologie ermittelt. Ich werde am späteren Vormittag hierhin zurückkommen, wenn es noch einigermaßen ruhig genug innerhalb der Tempelmauern zugeht. Die Massen kommen erst am Nachmittag auf einen Besuch vorbei. Zunächst lasse ich mich von meinem Tuk-Tuk Fahrer zum Ta Prohm Tempel, etwa fünfzehn Minuten Fahrt entfernt bringen. Um halb sieben sind bereits die ersten Fotografen da, um die einzige Stunde des Tages auszunutzen, an denen sowohl das Licht günstig ist, als auch eine menschenleere Kulisse möglich ist. Der Tempel war einst ein reicher Ort, dem über dreitausend Dörfer unterstellt waren und der Mutter Jayavarman VII gewidmet war. Der Tempelschatz aus vierzig tausend Perlen, Schleiern aus China, Diamanten und zwei Goldschüsseln, die allein zusammen fünfhundert Kilogramm gewogen haben sollen, wurde von den Franzosen nach der Wiederentdeckung nicht von den riesigen Würgefeigen befreit, was lange Zeit das besonderer Flair dieses Ortest ausmachte. Innerhalb der letzten drei Jahre hat sich hier aber vieles verändert. Um die Steine zu schützen wurden Holzwege aufgebaut und Teile des Tempels sind wegen Restaurationsarbeiten nicht zugänglich, was positiv ist. Einige der Urwaldriesen sind aber mittlerweile bereits umgestürzt, andere in schlechtem Zustand. Ob es gelingt diesen Ort ohne eine Limitierung der Besucher zu retten? Ich weiß es nicht. Noch jedenfalls gibt es immer viele verwunschene Stellen zu entdecken. Mein kleines Gorilla-Pod Stativ mit Beinen aus gummierten Kugelköpfen hat mir zwischen den Steinen jedenfalls wieder einen guten Dienst erwiesen. Auf dem Rückweg zum Osttor kommen mir bereits die ersten Reisegruppen entgegen, die vielen Kinder mit Postkarten, Armreifen und Guidebooks haben sich in Stellung gebracht, jeden mit einem hartnäckigen „Hello Sir, you need Guidebook?“ zu verfolgen bis man sein Tuk-Tuk bestiegen hat. Schule wird überbewertet, aber man darf nicht viel erwarten in einem Land, in dem Kinder seit je her von klein auf bei der Feldarbeit mitarbeiten. Ich lasse Ta Prohm hinter mir, um Angkor Wat von Osten, in diesem Fall vom Hintereingang aus zu erkunden. Entgegen aller anderen Tempel liegt der Haupteingang von Angkor Wat im Westen, was darauf schließen lässt, dass die Anlage ursprünglich als Mausoleum den hinduistischen Königs Suryavarmann II. gebaut wurde. Der Westen ist stets gleichzusetzen mit dem Untergang und Tod. Auch heute noch schlafen die abergläubischen Khmer nachts immer mit dem Kopf nach Osten. Die Ostroute ist ruhig. Entlang des Wassergrabens trocknen die Bewohner den gefangenen Fisch in der Sonne, für den Eigenbedarf oder um ihn auf dem Markt zu verkaufen. Fisch ist Grundnahrungsmittel Nummer zwei, direkt hinter dem Reis. Eine russische Reisegruppe lernt gerade, wie man eine Affenhorde besser nicht füttert und dass das Wort Klammeraffe nicht von ungefähr kommt. Ich lasse die verschiedenen Mauern mit ihren verschwenderischen Flachreliefs zunächst hinter mir und beginne mit dem Aufstieg zum zentralen Heiligtum, dem Hauptturm mit seinen Schreinen und einer stehenden Buddhastatue. Der Aufgang wurde mit einer steilen Holztreppe versehen. Das steinerne Original ist noch steiler und mittlerweile so abgenutzt, dass es bereits zu zahlreichen schweren Unfällen gekommen ist. Der Blick auf die weitläufige Tempelanlage von hier oben lohnt den Aufstieg aber allemal. Nach einem gemütlichen Rückmarsch durch die langen Galerien, die die Geschichte der Khmer über das Leben, Kriege und Kämpfe sowie zahlreiche indische Mythen erzählen verlasse ich Angkor Wat. Ich werde erst am Abend wiederkehren um mit einem Helium-Ballon eine andere Perspektive zu gewinnen.