Am Ufer liegen bunte Frachtkähne aus morschem Holz. Unzählige Schwalben nisten am Ufer in eigens errichteten Nisthäusern. Das Geschäft läuft gut, solange Schwalbennestersuppe in China als Delikatesse gilt. In der Morgensonne glänzt die Kuppel der Moschee und Geruch von Brackwasser vermischt sich mit den Abgasen unseres Motors. Das Boot hat eben erst abgelegt und wir verlassen den Hafen von Kumai in Richtung Tanjung Puting Nationalpark.
Im Reservat leben heute noch etwa sechstausend Orang Utans, deren Schutz vor allem auf die über vierzigjährige Arbeit von Dr. C, die hier 1971 nicht nur die Forschungsstation Camp Leakey aufgebaut hat, sondern vor allem ihr gesamtes Leben der Erforschung der roten Menschenaffen gewidmet hat. Das hölzerne Boot, das ich als einziger Gast für die nächsten drei Tage bewohnen werde, überquert die Bucht von Kumai und steuert auf die Mündung des Sekonyer Flusses zu. Neben dem Kapitän ist ein Koch an Bord und natürlich ein Guide für den Nationalpark. In meinem Fall ist mein Guide eine Frau, was in Indonesien durchaus ungewöhnlich ist. Für meine Reise nach Tanjung Puting ist sie ein Glückgriff, sie weiß sehr viel zu berichten und kennt den Wald in- und auswendig. Vielleicht muss man gerade hier auch als Frau stets ein wenig besser sein als die männliche Konkurrenz. Bereits nach einer halben Stunde Fahrt, sichtet mein Guide am Ufer den ersten Orang Utan, der seelenruhig die Früchte der Uferpalmen verspeist. Ich hätte vorher niemals gedacht, dass ein so großes rotes Tier so unsichtbar sein kann. Auch in den nächsten Tagen staune ich regelmäßig wie schnell sie im Wald untertauchen können. Schatten des Waldes. Nach zwei Stunden ist die erste Rangerstation erreicht. An einigen Stellen im Nationalpark werden regelmäßig Früchte auf Fütterungsplattformen verteilt. Dies ermöglicht die Sichtung der einzeln lebenden Tiere und stellt außerhalb der Früchtezeit ein zusätzliches Nahrungsangebot dar, was Konkurrenzverhalten verhindern soll. Der Nationalpark nimmt bereits seit einiger Zeit keine weiteren Tiere mehr zu Auswilderung an. Hier im Regenwald von Borneo gibt es fast täglich Regen und Gewitter, so auch auf unserem Weg durch den Wald zur ersten Auswilderungsstation Tanjung Harapan. Während man auf dem Boot weitestgehend unbehelligt von Moskitos über der Fluss gleitet, so wird man beim Betreten des Waldes fast augenblicklich von hundertern Plagegeistern überfallen. Mit lauten Rufen machen die Ranger schon beim Aufbruch in den Wald auf sich aufmerksam, obwohl der Fußmarsch einige Zeit dauert. Orang Utans leben über ein verhältnismäßig großes Gebiet weit verteilt und bewegen sich anders als Gibbons meist gemächlich in den Baumkronen vorwärts, stets wissend welcher Ast oder kleine Baum sich unter ihrem Körpergewicht wie weit neigt und biegt. Sie schreiten fast durch den Wald. Sechs oder sieben Orang Utans, teils mit Jungtieren, kommen so nach und nach zur ersten Fütterungsplattform um sich mit einigen Bananen wieder ein Stück zurückzuziehen, oder gleich auf der Plattform sitzen zu bleiben. Nahrungsaufnahme ist Haupttätigkeit der Tiere. Staunend verharre fünf Meter entfernt und erdulde den Regen wie die Orang Utans auch. Die Affen mögen Regen nicht sonderlich, auch wenn ihr Fell binnen Minuten wieder trocknet. Anstatt Schutz zu suchen brechen sie sich jedoch geeignete Zweige ab und nutzen diese als Regenschirm mit dem sie sich und ihr Schlafnest vor dem tropischen Wolkenbruch schützen. Die Tiere bauen meist mittags ein Nest und am Abend ein neues für die Nacht. Orang Utan Kinder lernen das Nestbauen spielerisch über viele Jahre, bevor sie in der Lage sind, stabile und weiche Schlafplätze an geeigneten Orten zu bauen. Zwar ist ihnen die Fähigkeit zu klettern angeboren, doch viele Kenntnisse erlangen sie erst über Jahre. Vor allem das Wissen um die über vierhundert bekannten Früchte, Blätter und Sprossen auf dem Speiseplan. Ein Orang Utan Kind bleibt bis zu acht Jahre ausschließlich bei der Mutter, die frühestens nach fünf Jahren erneut Nachwuchs bekommt.
Auf der weiteren Fahrt den Fluss hinauf zeigen sich zahlreiche andere Tiere. Am Ufer richten sich Gruppen von Nasenaffen für die Nacht ein. Die Männchen haben eine ausgeprägte Nasenform und werden daher von den Einheimischen wenig schmeichelhaft auch Dutch-Monkeys genannt (long nose – big belly…). Rote und silberne Makaken, Gibbons und diverse Vögel zeigen sich in den hohen Bäumen und Krokodile gehen vor dem Boot auf Tauchstation.
Die erste Nacht verbringe ich an Land in der Rimba Ecolodge, nicht ohne zuvor die Kochkünste meines Bord-Koches in Anspruch zu nehmen. Der ist aber noch mit ganz anderen Problemen beschäftigt. Anstatt eines prächtigen Fisches hat sich eine ausgewachsene Alligator-Schildkröte in den ausgeworfenen Köder verbissen. Wild fauchend und um sich schnappend braucht es drei Männer und ein paar Haken mehr um das Tier an Bord zu ziehen. Die „Delikatesse“ wird die nächsten drei Tage unter Deck verbringen, um wohl auf dem Schwarzmarkt von Kumai den Besitzer zu wechseln. Der nächste Tag beginnt früh und mit dem vollen Dschungel Orchester aus Zikaden, Vögeln und dem fernen Gesang der Gibbons. Mein Boot gleitet weiter den Fluss hinauf, der bislang schlammig trüb war. Nach einer Stunde Fahrt biegen wir in einen der Zuflüsse ab. Das Wasser hier hat die Farbe von verdünnter Cola, schwarzbraun und dennoch klar. Manchmal schwimmen größere Echsen durch den Fluss, hin und wieder zeigt sich der Schwanz eines Krokodils. Eine Stunde später ist Camp Leakey erreicht und schon am Bootssteg wartet ein junger Orang Utan neugierig auf Besucher. Mit seinen zehn oder elf Jahren ist diese Tier noch ein Teenager und gelegentliches Futter von Touristen offenbar durchaus gewohnt. Es ist eindrucksvoll hier den Ort zu besuchen, den Biruté Galdikas in ihrem Buch beschreibt und die Geschichte von der Erforschung der Orangs nachzuvollziehen, die hier vor vierzig Jahren begann. Bei den Wanderungen durch den Wald kommt man hier nicht nur den Orang Utans sehr nahe, sondern auch Gibbons und bisweilen Wildschweine kreuzen dicht unseren Weg. Ein besonders geduldiges Weibchen mit Nachwuchs lässt mich sogar bis auf etwa zwei Meter an sich heran. Offenbar sieht sie mich nicht als Gefahr. Anders ergeht es einem Wildschwein das ihr zu nahe kommt und kurzerhand Prügel mit einem Stock bezieht. Wildschweine fressen durchaus die Jungtiere, falls eines aus Unachtsamkeit zu Boden stürzt. Ein beeindruckender Tag geht auf dem Boot zu Ende, im Hintergrund das Dschungelorchester und das Prasseln des nächtlichen Regens auf den Sekonyer Fluss.Nach einem weiteren Tag im Nationalpark und vielen eindrucksvollen Begegnungen mit Orang Utans erreichen wir am Nachmittag den Hafen von Kumai. Beobachten zu dürfen, wie liebevoll und geduldig Orang Mütter mit ihren Kindern umgehen, mit welchen Geschick sie sich fortbewegen und welche Macht und Kraft ein ausgewachsenes Backenwulst-Männchen allein mit seinem Blick ausstrahlen kann, war ein unvergessliches Erlebnis. Einmal mehr bin ich dankbar für mein schweres Makroobjektiv, das wunderbare Porträts zaubert und dessen Lichtstärke mir so manches Foto ermöglicht hat, das sonst nicht entstanden wäre. Zwar ist die Sonne Borneos unerbittlich heiß, die Luft zum Schneiden schwül, aber im Wald wird es selbst bei Sonnenschein nicht richtig hell.
Am nächsten Tag verlasse ich Borneo mit hunderten Fotos im Gepäck und Momenten und Begegnungen im Gedächnis, die mich berührt haben. Der Regenwald hier hat mich ganz besonders fasziniert und ich bin mir sicher hier nicht zum letzten Mal gewesen zu sein. Große Flächen Borneos sind leider mittlerweile unwiederbringlich als Lebensraum für die Orang Utans verloren. Riesige Palmölplantagen liefern billiges Fett für die explodierende Weltbevölkerung und eine idealistisch geführte Biospritdebatte in Deutschland heizt dieses Geschäftsmodell ebenfalls an. Ohne Schutzgebiete wie Tanjung Puting hätte der Orang Utan vielleicht noch zehn Jahre, so heißt es. Es geht für mich zurück nach Surabaya auf Java und direkt weiter nach Makassar auf Sulawesi. Das Hochland der Toraja ruft.