Ein unscheinbarer weißer Fetzen Stoff an einem Bambuszweig am Wegesrand bewegt sich mit dem Wind. Ein Zeichen, dass in diesem Haus ein Toter liegt. Überall in Tana Toraja sieht man dieses Zeichen. Der Mensch muss nicht eben erst gestorben sein, sondern kann bereits viele Jahre als Toter mit der Familie im Haus wohnen. Eingewickelt in dicke Tücher, wartet er auf sein Begräbnis.
Die Verstorbene, die vor mir im Wohnzimmer des traditionellen Holzhauses in einem Holzsarg liegt, ist über 85 Jahre geworden, allerdings auch schon sein bereits eineinhalb Jahren tot. Die Verwandten haben diese Zeit genutzt, um das aufwendige Begräbnis vorzubereiten, das nächsten Monat endlich stattfinden wird. Überall auf dem Grundstück werden Bambushütten für die Gäste errichtet, unzählige rote Plastikstühle warten gestapelt auf ihren Einsatz. Der außergewöhnliche Totenkult der Toraja ist Ziel meiner Reise nach Sulawesi und ich werde mir drei Tage Zeit nehmen das Ganze etwas mehr zu verstehen. Das animistische Volk der Toraja hat Jahrhunderte isoliert vom Rest Sulawesis ganz eigene Traditionen und Sozialstrukturen entwickelt. Zwar sind die Toraja nach langem missionarischen Unsinn heute mehrheitlich Christen, doch zum Glück haben sie sich ihre Religion „Aluk Todolo“ bewahrt.
Demnach ist das Universum dreigeteilt in Oberwelt, Erde und Unterwelt. Im Norden und zugleich Zenit der Oberwelt, steht der allgegenwärtige Schöpfer, im Süden hingegen die Unterwelt. Der Osten steht allgemein für die Götter und der Westen für die Ahnen.
Die Toraja glauben an eine Wiedergeburt. Dabei begibt sich der Verstorbene auf eine lange und gefährliche Reise nach „Puya“, einem mystischen Ort im Süden. Dort müssen sie den Berg „Bambapuang“ besteigen um in die Oberwelt zu gelangen.
Die meisten Verstorbenen erreichen lediglich „Puya“, um dort in Frieden mit den ins Grab genommenen Opfern und Grabbeigaben zu leben. Nur wenn alle Rituale von den Angehörigen richtig ausgeführt wurden, kann die Reise nach Puya und der Aufstieg in die Oberwelt gelingen. Die damit verbundenen aufwendigen Begräbnisfeiern, die oft wochenlang dauern und mit vielen Tieropfern einhergehen, haben schon so manche Angehörige finanziell ruiniert. Gefürchtet ist ein Versagen bei den Zeremonien. Ein Toter, der nicht nach Puya kann, geistert womöglich für immer im Haus der Angehörigen umher, gefangen in der Zwischenwelt.
Nachdem ich mit dem Nachtbus aus Makassar heute im Morgengrauen die Stadt Rantepao erreicht habe, bemühe ich mich um einen Guide, der mir möglichst viele Begräbnisstätten zeigen soll und mit dessen Hilfe ich hoffentlich morgen einer Totenfeier beiwohnen kann.
Mit dem Motorrad geht es nach Süden, vorbei an Reisfeldern und Kakaoplatagen durch beeindruckende Dörfer, die stets gleich aufgebaut sind. Zwei parallele Häuserreihen in Ost-West-Ausrichtung. Den Wohnhäusern steht immer ein Reisspeicher gegenüber, wobei das Wohnhaus stets nach Norden ausgerichtet ist und damit den Göttern entgegensieht. Die Häuser auf Holzpfählen und mit Bambusdächern ähneln einem Schiff und sind mit Schnitzereien und zahlreichen Büffelhörnern aus früheren Begräbnissen verziert. In sehr alten Dörfern sind Häuser teilweise auch mit menschlichen Schädeln dekoriert. Dabei handelt es sich um Häuser von sehr reichen Familien, die dem Verstorbenen nicht nur unzählige Büffelopfer, sondern auch einige Leibeigene geopfert haben. Noch heute gibt es strenge undurchdringliche Gesellschaftsschichten, in denen es offiziell zwar keine Sklaven mehr gibt, jedoch arbeiten viele der besitzlosen Bauern täglich auf den Feldern um lediglich einen Teil der Ernte als Lohn zu bekommen. Gerade genug um zu überleben.
Weiter geht es zu den weit verteilten Begräbnisstätten, die in fünf verschiedene Arten unterschieden werden.
Die ersten Gräber, die Liang Pa, die ich in Lemo besuche, werden in monatelanger Arbeit in den Felsen geschlagen. Die Toten werden ohne Särge in die künstliche Höhle geschoben und die Öffnung wird verschlossen. Holzfiguren der Toten, die sog. Tao Tao, stehen als Grabwächter vor den Gräbern in der Felswand. In diesem Grab beginnt die Reise nach Puyo.
Bis auf eine greise französische Reisegruppe, die offenbar ebenfalls bereist geschlossen auf dem Weg nach „Puya“ ist, treffe ich nur einen oder zwei Touristen. Einige Kilometer weiter ist ein Bestattungsplatz für Babys. Kinder, die noch keine Milchzähne haben wurden hier lange Zeit in bestimmten Bäumen beigesetzt. Dafür wurden Löcher in den dicken Stamm gebohrt, und die Säuglinge in Embryohaltung hineingesetzt. In wenigen Jahren wachsen die Löcher wieder zu. Der Baum erzeugt große Mengen an Saft, der den Toten als Nahrung dienen soll. Man sagt, dass Babys ohne Sünde seien und daher auf direktem Weg nach Puyo gelangen. Jedes Blatt, das vom Baum herunterfällt ist ein Zeichen dafür.Im Dorf Londa und anderswo gibt es natürliche Begräbnishöhlen, genannt Liang Gua Erong, in der die Körper der Verstorbenen in einem Holzsarg bestattet wurden. Viele der Särge sind mittlerweile auseinandergebrochen und die Knochen liegen verteilt oder zu Haufen gestapelt.Ähnlich ist es vielen der hängenden Gräber in Ke’te Kesu ergangen, bei denen hölzerne Särge an hohen überhängenden Felswänden aufgehangen wurden. Die Särge waren mit kunstvollen Schnitzereien verziert und entweder in Form eines typischen Torajahauses oder für Frauen in Form eines Schweines und für Männer in Form eines Büffels. Heute liegen sie morsch und zerbrochen am Boden. Viele neuere Begräbnisstätten sind mittlerweile als Familiengruft in Form eines Torajahauses errichtet, in die die Toten zusammen und ohne Särge bestattet werden.Bis es jedoch soweit ist, vergeht viel Zeit bis die Begräbniszeremonie stattfinden kann, zu der hunderte von Gästen geladen werden müssen und eine, dem Leben des Verstorbenen angemessene, Anzahl an Tieren geopfert werden müssen. Das obligatorische Opfern von Büffeln führt dazu, dass diese anders als im Rest von Indonesien nicht mehr zur Arbeit auf dem Feld eingesetzt werden, sondern stattdessen von ihren Besitzern gepflegt und verwöhnt werden. Vor dem wöchentlichen Tiermarkt werden sie teilweise penibel eingeseift und gebürstet um einen möglichst hohen Preis zu erzielen.